Der Bullwhip-Effekt: Definition, Gründe und Auslöser
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Der Bullwhip-Effekt: Definition und Ursachen

| | Director Business Unit E-Invoicing/SAP&Web Prozesse, SEEBURGER
Was ist der Bullwhip-Effekt?

Was denken Sie? Gibt es eine Verbindung zwischen Rinderpeitschen (engl. Bullwhips) und Lieferketten? Was für Gemeinsamkeiten kann der Wilde Westen (mit Cowboys und Rinderherden) schon mit der Industrie (mit Maschinen und Fließbandarbeit) haben? Es gibt sie tatsächlich! Beide Welten verbindet die Tatsache, dass kleine Ursachen oft eine große Wirkung haben. Schwingt ein Cowboy seine Bullwhip, verursacht eine vergleichsweise kleine Armbewegung am einen Ende der Peitsche einen weiten Ausschlag an ihrem anderen Ende. Und dieser wird größer, je länger die Peitsche ist. So kann im übertragenen Sinne auch eine kleine Bedarfsschwankung am einen Ende der Lieferkette die Produktion an ihrem anderen Ende komplett durcheinanderbringen. Auch hier vergrößert die Länge der Lieferkette die Auswirkungen zu ihrem Ende hin. Mag jedoch die große Wirkung beim Rindertrieb im Wilden Westen ja durchaus beabsichtigt sein, so sucht man in der Industrie dringend nach Wegen, solche großen, sich aufschaukelnden Ausschläge entlang der Lieferkette zu dämpfen oder idealerweise komplett zu vermeiden. Hierzu ist es wichtig zu verstehen, wie es überhaupt zum Bullwhip-Effekt kommt. SEEBURGER-Experte Rolf Holicki geht diesem Phänomen auf den Grund.

In Zeiten wie der aktuellen Corona-Krise ist die Nachfragesituation besonders volatil. War es schon immer anspruchsvoll, Bedarfe zu interpretieren und daraus die richtigen Entscheidungen zu treffen, so ist es in einer Welt, in der Toilettenpapier von einem Tag auf den anderen wie weißes Gold gehandelt werden kann, zu einer massiven Herausforderung geworden, die Regale in den Supermärkten gemäß der wechselhaften Nachfrage optimal zu bestücken. Lernen Sie den Zusammenhang zwischen Nachfrageschwankungen und dem Bullwhip-Effekt sowie dessen Auswirkungen auf die gesamte Lieferkette kennen. In einem weiteren Beitrag erhalten Sie Lösungsansätze, um den Bullwhip-Effekt in Ihrer Lieferkette vorauszusehen, und dadurch abzuschwächen oder gar zu verhindern.

Was genau ist der Bullwhip-Effekt?

Der Bullwhip-Effekt wird auch Forrester-Effekt genannt. Er wurde 1961 von Jay Wright Forrester, Professor an der MIT Sloan School of Management, in seinem Buch, Industrial Dynamics, behandelt. Der Bullwhip-Effekt beschreibt ein Phänomen, das im Supply Chain Management für massive Störungen sorgen kann. Schon kleine Nachfrageschwankungen beim Endkunden können exponentiell zunehmende Bedarfsschwankungen beim jeweiligen Vorlieferanten auslösen. Das Besondere daran ist, je länger die Lieferkette und je weiter man vom Kunden entfernt ist, desto stärker wirken sich diese Schwankungen aus. Um beim Bild des peitschenschwingenden Cowboys zu bleiben: Je länger die Peitsche, desto größer ihre Amplitude. Zur Veranschaulichung dieses Effektes wurde von Professor Forrester und seinen Studenten das sogenannte „Beer Distribution Game“ entwickelt.

Der Bullwhip-Effekt anschaulich erklärt am „Beer Distribution Game“

In Professor Forresters „Beer Distribution Game“ wird nachvollzogen, was passiert, wenn eine unerwartet sprunghaft ansteigende Nachfrage nach Bier im Einzelhandel (im übertragenen Sinne also die kleine Armbewegung beim Ausholen zum Peitschenschwung) einen Nachfrageschock in der Brauerei auslöst (der weite Ausschlag). Abbildung 1 veranschaulicht diesen Bullwhip-Effekt. Die hier dargestellte sehr einfache Lieferkette besteht aus

  • Brauerei,
  • Abfüller,
  • Großhändler und
  • Einzelhändler.

Einfache Veranschaulichung des Bullwhip-Effekts am Beispiel des „Beer Distribution Game“ nach Professor Forrester
Abbildung 1: Einfache Veranschaulichung des Bullwhip-Effekts am Beispiel des „Beer Distribution Game“ nach Professor Forrester [1]
Nehmen wir also an, eine unerwartete Hitzewelle lässt die Nachfrage nach Bier von heute auf morgen drastisch ansteigen. Der Einzelhandel reagiert sofort und erhöht seine Bestellung beim Großhandel. Er erhöht diese allerdings überproportional stark, da er eine gewisse Lieferverzögerung einkalkuliert. Der Einzelhändler will auf diese Weise auch den künftigen Kundenbedarf decken können und bestellt daher deutlich mehr Bier, als tatsächlich nachgefragt ist. Dieser Effekt zieht sich so immer weiter durch die Lieferkette: Die Bestellmenge liegt in jeder Stufe des Netzwerks über der tatsächlich nachgefragten Menge. Die obenstehende Abbildung 1 zeigt die Auswirkungen, die diese variierenden Bestellmengen jeweils auf den einzelnen Lieferanten haben. Während die Schwankungen beim Einzelhändler noch relativ gering sind, weist die Grafik der Brauerei bei den Bestellungen wesentlich größere Ausschläge auf. Das ist der Bullwhip-Effekt.

Welche Faktoren lösen den Bullwhip-Effekt aus?

Abbildung 1 verdeutlicht: Selbst bei einer verhältnismäßig kleinen, nur vierstufigen Lieferkette, können die durch schwankendes Bestellverhalten verursachten Amplituden bei nachgelagerten Lieferanten enorm sein. Innerhalb von Multi-Tier-Lieferketten mit schwer prognostizierbaren Nachfragemustern wird das Bestellverhalten von vielen verschiedenen Faktoren beeinflusst. Mangelnde Koordination und unzureichende Bedarfs-, Bestell- und Logistikinformationen sind entscheidende Gründe für Bestandsschwankungen. Sehen wir uns einige davon näher an:

  1. Liefergeschwindigkeit bzw. der Zeitraum zwischen Bestellung und Auftragserfüllung
    Je nach Produkt und Position innerhalb einer Lieferkette können die Bestellfristen sehr unterschiedlich sein. Dies kann beispielsweise in einer langen Fertigungsdauer von Bauteilen oder unsicherer Rohstoffversorgung begründet sein. Bei langen Bestellfristen nimmt auch die Bestellmenge durch nachgelagerte Lieferanten in der Regel zu. Auf diese Weise wird sichergestellt, stets ausreichend Ware auf Lager zu haben und auch auf hohe Nachfrageschwankungen schnell reagieren zu können.
  2. (Nicht-)verfügbare Informationen zum Lieferkettenstatus
    Es gibt vielfältige Gründe, warum die Informationen zur Verfügbarkeit von Rohstoffen oder Bauteilen verzögert oder nur ungenau vorliegen können. Die Fragilität globaler Lieferketten kann unter anderem durch plötzliche instabile politische Situationen, Folgen unerwarteter Naturkatastrophen oder auch Havarien, wie sie kürzlich der Frachter „Ever Given“ im Suezkanal erlitt, ja, nicht zuletzt durch die Auswirkungen globaler Pandemien, wie wir sie aktuell erleben, verursacht werden. Vorherzusagen, wann die hiervon betroffenen Produkte wieder verfügbar sein und unterbrochene Lieferketten wieder fortgeführt werden können, ist in solchen Fällen nahezu unmöglich.
  3. Überreaktionen aufgrund von Fehlinterpretationen der Verfügbarkeit von Produkten
    Über die leer gefegten Toilettenpapierregale in Supermärkten auf der ganzen Welt, kurz nach Ausbruch der Corona-Pandemie im März 2020, wundern wir uns heute noch. Die Süddeutsche Zeitung hat diesem Phänomen einen Artikel gewidmet und kommt darin zu dem Schluss, dass ein Mangel weniger durch eine tatsächliche, unmittelbare Bedrohung erzeugt wird, als vielmehr durch die Angst davor.[2] Dieses Phänomen ist es auch, das die Panikbestellung im Beispiel des „Beer Distribution Game“ erklärt. Fehlinterpretationen des Bestellverhaltens, Überreaktionen und Hamsterkäufe können also rasch zu unerwarteten Schwankungen in einer Lieferkette führen.
  4. Länge oder Anzahl der Stufen innerhalb der Lieferkette
    Je komplexer eine Lieferkette, desto mehr schaukeln sich schon geringe Schwankungen in der Bestellmenge am Anfang einer Lieferkette von Teilnehmer zu Teilnehmer auf. Forrester hat bereits in seiner sehr einfachen, nur vierstufigen Supply Chain von Einzelhandel zu Brauerei Bestellamplituden von 900 Prozent festgestellt. Bei steigender Anzahl von Lieferkettenteilnehmern werden die Bestellamplituden bis hinunter zum letzten Lieferanten immer größer.
  5. Wirtschaftliche Maßnahmen wie Preispolitik oder Auftragsbündelung
    Es ist ein grundlegendes Prinzip der Marktwirtschaft: Die Nachfrage bestimmt den Preis. Dies wiederum hat direkten Einfluss auf das Bestellverhalten. Sind Produkte oder Rohstoffe großen Preisschwankungen unterworfen, wirkt sich dies unmittelbar auf das Bestellverhalten des jeweils betroffenen Akteurs innerhalb einer Supply Chain aus. Vermutet dieser eine Preiserhöhung in naher Zukunft, werden die Bestellmengen erhöht, um von den noch niedrigeren Preisen zu profitieren. Oder er bündelt seine Aufträge, um beispielsweise Mengenrabatte zu erhalten oder Versandkosten zu sparen. Auf diese Weise werden jedoch lediglich die Lagerbestände erhöht, der tatsächliche Bedarf ist hingegen nicht gestiegen. Allerdings wird dadurch eine Kettenreaktion ausgelöst, die sich bis zum letzten Glied in der Supply Chain fortsetzt.

Schon anhand dieser kurz angerissenen Beispiele ist erkennbar, dass in vielen Fällen Entscheidungen, die auf unzureichenden Informationen, Fehlinterpretationen oder mangelnder Kommunikation basieren, den Bullwhip-Effekt auslösen. Lernen Sie in einem weiteren Beitrag die Möglichkeiten kennen, den Bullwhip-Effekt abzuschwächen oder gar zu verhindern. Wie Sie sicher bereits vermuten, spielen Maßnahmen zur Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung hierbei eine signifikante Rolle. Bleiben Sie dran!


[1] In Anlehnung an: The bullwhip effect – Beer Distribution Game – Kearney (abgerufen am 19.11.2021).

[2] Vgl. Plötzlich fast die wertvollste Ware der Welt sueddeutsche.de (abgerufen am 03.01.2022)

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Rolf Holicki

Ein Beitrag von:

Rolf Holicki, Director Business Unit E-Invoicing, SAP&Web Prozesse, ist verantwortlich für die SAP-/WEB-Applikationen und Digitalisierungsexperte. Er hat mehr als 25 Jahre Erfahrungen in den Bereichen E-Invoicing, SAP, Workflow und Geschäftsprozessautomatisierung. Rolf Holicki ist seit 2005 bei SEEBURGER.